Um sechs Uhr früh werden wir durch ein starkes Gewitter geweckt. Donner und Blitz kreisen zwischen Meer und Bergen. Es
gießt in Strömen. Trotzdem brechen wir zu einem Ausflug auf, der uns zur Serra San Bruno und dem dort einstmals vom Hl. Bruno gegründeten Kartäuserkloster führen soll.Auf unserer Fahrt kommen wir kurz nach Ricadi an
einem sehr gut erhaltenen und an einer tiefen Schlucht gelegenen römischen Aquädukt vorbei. Nach einer weiteren halben Stunde Fahrtzeit erreichen wir die an den nördlichen Abhängen des
Monto Poro gelegene, wolkenverhangene Ortschaft Zungri. Der Regen hat aufgehört, doch der Himmel ist immer noch düster. Enge Gässchen führen an der Kirche vorbei zu einem kleinen
Parkplatz, von dem aus wir einem gepflasterten Fußweg nach unten zur ehemaligen
Felsenstadt folgen. Das nächtliche Gewitter hat Erdreich den Hang herunter gespült und Bäume geknickt, die jetzt quer über dem Weg liegen. Unverdrossen bahnen wir uns trotz dieser
Widrigkeiten den Weg zu der an einer Schlucht gelegenen Höhlenstadt aus byzantinischer Zeit, die bis ins 14. Jahrhundert bewohnt war. Bald stoßen wir auf die ersten in den weichen Sandstein
gehauenen Wohnungen, die sich bis heute erhalten haben.
Zurück im etwas trist wirkenden modernen Zungri gönnen wir uns auf der Piazza in einer
Bar einen Espresso, finster beäugt von den einheimischen Gästen. Doch sobald wir ein Gespräch beginnen, hellen sich die Mienen augenblicklich auf und die Männer antworten freundlich.
Bei der Weiterfahrt begegnen uns Bäuerinnen, die ihre Bündel auf dem Kopf balancieren. Die Vegetation besteht aus Mischwald, Bambus und immer wieder Farne. Über San Gregorio fahren wir Richtung
Soriano Calabro. Auffallend sind die vielen aus Ziegel gebauten, unverputzten Häuser, die den Dörfern einen ärmlichen Anstrich geben. Der
unfertige Zustand vieler Häuser erklärt sich wohl auch dadurch, dass ein Haus erst nach seiner Fertigstellung besteuert wird.
Von weitem sehen wir schon das steil an eine Bergflanke geschmiegte Städtchen
Soriano Calabro. Ein enges, steiles und kurvenreiches Sträßchen führt zur Altstadt hinauf, in deren Zentrum die Ruinen eines Klosters stehen. Die nächste Ortschaft heißt Sorianello, die kleinere
Schwester von Soriano. Weiter geht es durch Mischwald in engen Kurven bergauf, bis man endlich freien Blick auf den Monte Crocco (1.274 m) hat. Im Winter braucht man hier oben
Schneeketten. Ein Schild weist eine Forellenzucht aus. Je höher wir kommen, desto mehr wird der Laubwald von Nadelhölzern abgelöst. Es gibt einige holzverarbeitende Betriebe.
Im Ort Serra San Bruno
angekommen, folgen wir zuerst der Ausschilderung zu der inmitten von Tannenwäldern gelegenen und von einem Wildbach umflossenen Barockkirche Santa Maria del Bosco
, die an der Stelle erbaut wurde, an der einstmals eine vom Heiligen Bruno im elften Jahrhundert errichtete Klause stand. Eine breite Treppe führt hinauf zur Kirche, daneben befindet sich das Grabmal des Heiligen Bruno.
Am Fuße der Treppe ist ein Teich angelegt. Am Ufer
steht eine Marienfigur; im Wasser des Teiches befindet sich eine Darstellung des Hl. Bruno, wie er mit gefalteten Händen im Wasser kniet. Zu seinen Lebzeiten pflegte der Heilige oft tagelang bis zu den
Hüften in eiskaltem Wasser stehend zu beten. An der Stelle, an der sich heute der Teich befindet, wurde Bruno im Jahre 1101 begraben. Als seine Gebeine Jahrhunderte später in die höher gelegene
Felsengrotte, die mit einem Grabmal umbaut ist, überführt wurden, soll heilkräftiges Wasser der Erde entsprungen sein, das den Teich noch heute speist. Jedes Jahr findet an
Pfingsten eine „Prozession der Besessenen“ statt, in deren Verlauf psychisch Kranke in das Wasser getaucht werden, um ihnen das Böse auszutreiben und sie so von ihren Krankheiten zu heilen.
Bruno, ein gebürtiger Kölner, wurde im Jahre 1091 von Papst
Urban II. nach Italien geholt. Obwohl in höchste kirchliche Ämter berufen, zog er es vor, sich mit sieben Brüdern auf der Serre in die Einsamkeit einer Kartause zurück zu ziehen.
Abgewandt von allem Diesseitigen umgaben sich die asketisch lebenden Mönche mit Totenköpfen und Sensenmännern. Bruno gründete den Kartäuser-Orden, noch heute einer der strengsten
Orden der Welt, und erbaute in der Serre die beiden Klöster Santa Maria del Bosco und San Stefano. La Certosa San Stefano, das nahe am Ort liegt, wurde zwar im 18. Jahrhundert durch ein
Erdbeben zerstört, dann aber im neugotischen Stil wieder aufgebaut und ist bis heute seiner Bestimmung als Kloster treu geblieben. Das weltabgewandte, im Mittelalter verharrende
Leben der Mönche wurde gerade erst in dem eindrucksvollen Film „Die große Stille“ (Regie: Philip Gröning) einem breiten Kinopublikum vorgestellt.
Das Kloster San Stefano
darf man zwar nicht besuchen, aber in einem wunderbaren, kleinen Museum kann man die nachgestellten Kapellen, Zellen und Arbeitsräume durchwandern, während im Hintergrund gregorianische Choräle erklingen. Ich bin
beeindruckt und kaufe im dazugehörigen Devotionalienladen einen „heiligen“ Gips-Bruno.
Als wir zum Parkplatz zurückkommen, erwartet uns eine Überraschung: die Beifahrertür
unseres Autos steht sperrangelweit offen! Hatten wir vergessen, sie zu schließen? Ist sie aufgebrochen worden? Wie auch immer: nichts ist beschädigt, das Innere ist völlig
unberührt, alles ist noch da. War das ein Zeichen, Bruno?
Das Städtchen Serra San Bruno wurde einst von für das Kloster arbeitenden Männern und
deren Familien bewohnt. Jetzt am frühen Nachmittag ist es dort sehr ruhig, nur die Pizzeria Le Giare hat geöffnet. Der sehr nette Wirt backt uns eine köstliche Pizza Calabrese,
die uns, wenn auch auf sehr diesseitigem Weg, der Seligkeit nahe bringt.
Abends zurückgekehrt nach Coccorino, wird es gleich wieder sehr katholisch. Heute wird
das „Fiesta della Madonna Immacolata“, das Fest der jungfräulichen Madonna, gefeiert. Eine Statue der Muttergottes wird, begleitet von einer Blaskapelle und unter reger
Anteilnahme der Bevölkerung, durch den Ort getragen. Auf der Piazza sind Verkaufsstände für Süßigkeiten und andere Leckereien aufgebaut und den würdigen Abschluss dieses Tages bildet ein buntes Feuerwerk.