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  IM
HERZEN
DER
BASILIKATA

Aus Apulien kommend, das südöstlich an die Provinz Basilikata anschließt, fahren wir Richtung Potenza, der Hauptstadt der Basilikata. Wir nehmen die  Superstrada 407, die den östlichen Golf von Tarent mit dem westlichen Golf von Salerno verbindet. Unser Ziel ist das vulkanische Vulture-Massiv, ein südlicher Teil des Apennin.

Das Gebiet der heutigen Basilikata entspricht dem antiken Lukanien, benannt nach den Lukanern, einem gefürchteten Bergvolk. Der Name Basilikata geht auf die Byzantiner zurück und ist heute die offizielle Bezeichnung der Region. Sie misst knapp zehntausend Quadratkilometer und ist mit ihren 610 000 Einwohnern nur dünn besiedelt.

Die SS 407 führt entlang des von beiden Seiten von Bergen umsäumten,  fruchtbaren Basento-Tales.Bereits die Fahrt durch dieses Flusstal streift etliche Orte, die für die vielfältige Geschichte dieser herb-bitteren italienischen Region stehen. Gleich zu Beginn des Tales liegt zur Linken der Ort Metaponto. Dessen Hera-Tempel zeugt durch die immer noch hoch in den basilikatischen Himmel ragenden Säulen von den Zeiten, als hier einer der Hauptorte der „Magna Graecia“ lag. An diesem Ort findet sich seit 480 vor Christus das Grab des durch seinen mathematischen Satzes berühmten Pythagoras.

Nicht weit nach Metaponto grüßt das weiße Pisticci von seinem Berg herab. Dessen Geschichte ist in erster Linie geprägt von verheerenden Erdrutschen, wie sie hier in der Basilikata so typisch sind, und bis in unser Jahrhundert immer wieder Tote fordern. Je tiefer wir in das Basento-Tal eindringen, desto mehr calanchi, zu deutsch Runzen, bestimmen das Landschaftsbild. Diese calanchi sind durch Bergrutsche hervorgerufene Verwerfungen, grau-braune Erosionsfurchen, die sich, das Grün durchbrechend, die Berge hinunterziehen. Man ahnt, wie brutal und unberechenbar hier Naturgewalten seit Jahrtausenden herrschen

Wir kommen vorbei an Ferrandina, benannt nach seinem Gründer, König Ferdinand II. (1494). Dahinter auf einem Berghügel gelegen die Ruinen des 1456 bei einem Erdbeben zerstörten Uggiano mit seinem Kastell, das schon weit vor der Muslimenherrschaft (1029) erbaut wurde und in das sich 1068 der Normanne Robert Guiskard flüchtete.

Es kommt Tricarico in Sicht, einst wie so viele Orte von den Sarazenen eingenommen,. Tricarico steht stellvertretend für die wechselvolle Geschichte der Basilikata: zuerst waren hier die Byzantiner, dann die Sarazenen, es folgten die Normannen, darauf die Staufer, bevor die französischen Anjou die Herrschaft übernahmen. Dann fiel der Ort an die Sanseverino und andere Adelshäuser, bevor er seinen Beitrag ebenso zu den antispanischen Aufständen wie zur „Köhler-Bewegung“ und zu den Briganten-Aufständen lieferte. Heute kämpft das Städtchen gegen sinkende Einwohnerzahlen mangels ökonomischer Perspektiven.

Bei der Weiterfahrt öffnet sich vor uns der Blick auf Castelmezzano, mit seinen dahinter liegenden wilden Felszacken, den „Lukanischen Dolomiten“. Der höchste Gipfel dieser zerklüfteten Bergwelt ist der Volturino,  mit einer Höhe von 1.836 Metern. Von hier auch sichtbar Pietra Pertosa, der mit 1088 Metern höchstgelegene Ort der Basilikata.

Nur ein kurzes Stück entfernt liegt Brindisi Montagna. Alljährlich finden hier in den Sommermonaten vor der als Kulisse genutzten Burgruine die von hunderten von Laienschauspielern aufgeführten „Grancia-Festspiele“ statt, welche die Geschichte der Brigantenbewegung wieder lebendig werden lassen. Die Geschichte der Briganten geht bis ins 18. Jahrhundert zurück als Reisende von Überfällen durch Banditen berichteten. Um 1800 nahm das Banditentum erstmals politische Züge an, gespeist durch aus Frankreich übernommene republikanische Ideale. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Bringantenbewegung nochmals gestärkt von hungernden Bauern und Tagelöhnern, die in totaler Abhängigkeit von den Großgrundbesitzern zu einem elenden und unwürdigen Leben gezwungen waren. Sie unterstützten Garibaldi bei seinem Marsch auf Rom, wurden aber von ihm bei der Einlösung seiner Versprechen von Landreformen bitter enttäuscht und wandelten sich immer mehr zu gewalttätigen Banden, die das Land terrorisierten. Es gab legendäre Brigantenführer wie Crocco, den sie „re dei re“, den „König der Könige“ nannten. Er herrschte zeitweilig über 43 Banden mit mehr als 2.200 größtenteils berittenen Mitgliedern, die auf Fotos in ihrem Outfit an den amerikanischen wilden Westen erinnern. Auch „Bonnie-and-Clyde-Stories“, Liebesgeschichten zwischen dem Briganten und der Brigantessa, gespeist durch das gemeinsame bewaffnete Abenteuer, trugen zum Mythos des Brigantentums bei. Crocco gelang in seinem Feldzug gegen die Obrigkeit 1861 sogar die Erstürmung des Kastells Lagopésole. 1867 wurde er gefangengenommen, schrieb in den 38 Jahren seiner Haft seine heute noch gerne gelesenen Memoiren, bevor er im  Jahre 1905 starb.

Noch bevor wir Potenza erreichen, verlassen wir die SS 407 Richtung Norden und nehmen die Straße Richtung Melfi. Unser Weg führt über Lagopésole und Rionero zu den Laghi Montecchio. Die Landschaft ist bestimmt von grünen, hügelig-bergigen Erhebungen, durchsetzt von leuchtend-gelben, bereits abgeernteten Weizenfeldern. Dazwischen wird auch Wein angebaut, und vereinzelt wachsen Olivenbäume.Vor uns tauchen die bewaldeten, bis zu 1326 Metern aufstrebenden Vulkankegel des Vulture-Massivs auf. Steil geht die Straße hinab zu den in idyllisches Grün gebetteten zwei Kraterseen Laghi Montecchio. Wir fragen nach einem Quartier und werden freundlich  zu zwei gegenüberliegenden kleinen Alberghi gelotst. Wir entscheiden uns für das rechte, das „Ristorante/Pensione Restairo“. Eine bäuerliche  Frau führt uns zu einem neben dem Restaurant liegenden Gebäude und dort in den ersten Stock. Das Haus ist mindestens fünfzig Jahre alt und genauso alt ist der Großteil seiner Möblierung. Aber alles ist sauber, geräumig und verströmt einen morbiden, gemütlichen Charme. Durch das Badezimmer gelangen wir sogar zu einer großen Terrasse, die zu unserem Zimmer gehört. Wir scheinen die einzigen Gäste zu sein und machen unsere Wirtin vorsichtshalber darauf aufmerksam, dass wir hier auch zu Abend essen möchten. Kein Problem, die Halbpension kostet für zwei Personen 70,00 Euro.

Neugierig erkunden wir noch vor dem Abendssen die Gegend und folgen der Teerstraße, an der unsere kleine Pension liegt. Schon nach wenigen Metern ist die Fahrbahn durch querliegende Bäume versperrt, dann bricht sie ganz ab. Wir machen uns im Reiseführer schlau: Diese Straße verlief auf der Landzunge zwischen den beiden Seen und ist bei dem Erdbeben im Jahre 1980 zerstört und nicht wieder repariert worden. Wir wohnen hier also wirklich, wenn schon nicht am Ende der Welt, so doch am Ende aller Verkehrswege. Bei unserem Spaziergang gelangen wir bald zur Ruine der Kirche Sant’Ippolito, einer Basilianerniederlassung aus dem 10. Jahrhundert. Die Basilianer beriefen sich auf die Askeselehre des Heiligen Basilius, welche auch die Benediktinerregeln prägt.  Über die Ursprungskirche wurden  im 11. und 13. Jahrhundert noch einmal Kirchen erbaut, die dann dem Erdbeben von 1456 zum Opfer fielen.

Nur ein paar Schritte weiter und schon sind wir wieder an der Landzunge zwischen den beiden Seen angelangt. An der Seepromenade sind einige Andenkenläden und Imbissstände geöffnet, doch es gibt kaum Besucher. Wir umrunden auf einem hübsch angelegten Spazierweg den baumumwachsenen „Lago Piccolo“. Schon aus der Ferne erstrahlt weiß die Abbazia di San Michele, eine von Benediktinern im 12./13. Jahrhundert in luftiger Höhe erbaute Kirche mit Kloster und Grotte. Die Grotte gehört zu den bedeutenden süditalienschen Michaelskultplätzen. Nach einem schweißtreibenden Aufstieg müssen wir leider feststellen, dass Kirche und Kloster geschlossen sind. Wir wiederholen im Laufe unseres Aufenthalts noch dreimal den Versuch, ins Innnere der später von Augustiner-Chorherren und Kapuzinern betriebenen Abtei vorzudringen, werden aber jedesmal enttäuscht. Schade!

Zurückgekehrt in unser Pensione/Ristorante finden wir uns als die einzigen Gäste in einem sehr großen Speisesaal mit Neonbeleuchtung wieder, in dem alle Tische gedeckt sind und der über ein ungetrübtes Fünfziger-Jahre-Ambiente verfügt. Der Wirt und die Signora geben sich sehr große Mühe, uns mit Antipasto, Pasta, Secondo und Vino aus dem eigenen Garten zu verwöhnen. Als wir schließlich müde und gesättigt unsere Zimmer aufsuchen, hören wir, wie unten alles abgesperrt wird, unsere Wirtsleute ins Auto steigen und wegfahren. Von unserer Terrasse lauschen wir in die mondhell beschienene Nacht auf das Wispern des Windes in den Bäumen. Völlige Einsamkeit und Harmonie haben sich über dieses Fleckchen Erde inmitten Italiens, inmitten der Basilikata, inmitten der lukanischen Berge gesenkt. Tief und fest schlafen wir weit in den nächsten Morgen hinein.

Nach dem Frühstück mit weißer, käsig schmeckender Butter, aber hausgemachter Marmelade und duftendem Cappucciono führt uns der erste Weg in das  nur wenige Kilometer entfernte Städtchen Ripacandida. Zwar weist auch unser Reiseführer Ripacandida mit einem „Sehenswert“-Stern aus, doch führen uns nicht in erster Linie die Kulturschätze an diesen Ort, sondern die Neugierde über Magie und Geisterglauben. Seit der Lektüre des Siebenhundert-Seiten-Schmö kers „Magie und Macht in Italien – Über Frauenzauber, Kirche und Politik“ von Thomas Hauschild wollten wir den Ort kennenlernen, in dem der Tübinger Ethnologe bei seinen Feldforschungen katholischen Schamanismus ausfindig machte. Seinen Erfahrungen mit Heilern und Heiligenkulten, mit Verhexung und Besessenheit, mit Aberglaube und ekstatischer Religiosität, mit Verquickung von Macht und Politik durch Bindung und Lösung, gilt es nachzuspüren. Unser erster Weg führt zur Kirche des Heiligen Donatus, dem in Ripocandida verehrten Heiligen der Krüppel und Epileptiker, der im Jahre 362 den Tod durch Enthauptung fand. Neben dem kleinen Stadtpark, in dem Frauen ihre Kinderwagen spazierenfahren und uns freundlich grüßen, finden wir den Eingang zur Kirche. Die Kirche wirkt hell und anheimelnd und wir bewundern ausgiebig den wunderbaren Freskenzyklus.

Anschließend fahren wir in die hoch gelegene,  herben Liebreiz verbreitende Altstadt, schlendern zum Domplatz, schwatzen mit alten Männern während wir einen Espresso schlürfen. Von Geistern ist an diesem sonnenbeschienen Tag weit und breit nichts zu spüren, auch wenn der Blick auf den nahe gelegenen Friedhof an die Sargnägel erinnert, die hier zu Zauberzwecken entwendet worden sein sollen. Aber haben nicht schon allein die Namen Ripocandida, Rionero, Vulture, wenn man sie nur oft genug wiederholt, einen magischen Klang?

Unser weiterer Weg führt uns zum Castel Lagopésole. Wie bei so viele Ortsnamen hier liegt die Betonung nicht auf der zweitletzten Silbe, wie im Italienischen üblich, sondern auf der drittletzten Silbe, wie aus der griechischen Sprache bekannt. Viele Ortsnamen gehen noch auf Gründungen in der Zeit der Magna Graecia zurück und auch in der späteren, römischen Zeit war es in besseren Kreisen chic, die griechische Sprache zu pflegen.

Das Castel Lagopésole thront wie ein überdimensionaler Monolith auf einem über achthundert Meter hohen Berg und ist schon von weitem sichtbar. Der Ort diente bereits als byzantinischer Kornspeicher, ehe er von den Normannen ausgebaut wurde. Der Staufer Friedrich II. gilt als Bauherr der Burg in ihrer jetzigen Form. Der Kaiser, wohl die schillerndste und faszinierendste Herrscherfigur seiner Zeit, verbrachte hier viele Sommer, auch den letzten vor seinem Tod im Jahre 1250. Lagopésole wurde danach von seinem Sohn Manfred bewohnt, anschließend erfreute es sich großer Beliebtheit bei den französischen Anjous und ihnen nachfolgenden Adelsfamilien.

Während sich in Friedrichs apulischem Castel del Monte die Touristenbusse zu allen Jahreszeiten drängeln, sind wir hier Mitte Juli die einzigen Besucher. Nur ortsansässige Geckos begleiten unseren Spaziergang um die Burg. Doch das Castel ist geöffnet, der Eintritt frei. Im ersten Stock ist ein kleines Museum untergebracht, dessen Exponate sogar auf englisch beschriftet sind. Hinter der Treppe führt ein Gang in kleinere, leerstehende Säle, in dem letzten verbirgt sich hinter einem hölzernen Quader der Zugang zu einem schmalen Burgumgang, der auch zur Burgkapelle führt. Der Kaisersaal und der ältere, baugeschichtlich interessantere Teil des Castels sind leider nicht zugänglich. Um dreizehn Uhr schließt das Castel, um 12 Uhr 45 werden wir von der freundlichen Bediensteten aus der Burg gescheucht, da sie ihr Mann vor dem Castel zum Mittagessen erwartet Und die Tuppo die Sassi, hier in der Nähe gelegenen, neuntausend Jahre alten Felszeichnungen, die wir so gerne gesehen hätten? „E chiuso!“, ist ihr Kommentar.

Also folgen wir weiter, durch Steineichenwälder, dem Sträßchen, das uns nach Avigliano führen soll. In den Senken und Tälern lagert auf abgeernteten Kornfeldern das zu Ballen gebundene Stroh. Dazwischen finden sich vereinzelt einfache Häuser und kleine Weiler. Erinnerungen an Almwiesen werden wach. Auf den Hügeln drehen sich die Rotorenblätter von Windrädern zur Stromerzeugung. Dann öffnen sich berückende Ausblicke auf die gewaltige Bergwelt der lukanischen Dolomiten. Wir erreichen das nette Städtchen Avigliano, stärken uns mit Panini und fragen einen älteren Passanten nach dem Weg zu unserem nächsten Ziel,  Muro Lucano. Sogleich winkt er uns erfreut zur Seite und hebt an zu einem kleinen Monolog. Genau erklärt er uns, wie wir zu fahren haben, wo wir abbiegen müssen, an welche Kreuzungen wir kommen, welche Orte wir durchfahren werden und welche Abzweigungen wir keinesfalls nehmen dürften. Der gute Mann ist fertig, holt tief Luft und...  fängt mit der Beschreibung von vorne an. Vielleicht haben wir ja nicht alles richtig verstanden und es ist ja wirklich sehr kompliziert, zumal für Fremde. Es sind ihm inzwischen einige Ideen gekommen, wie er seine Rede noch ausschmücken könnte, um uns auf den richtigen Weg zu bringen. Und noch bevor wir nach diesem zweiten Vortrag kundtun können, wie dankbar wir ihm sind und wir jetzt genau wüßten, wo es langgeht, holt er ein weiteres Mal tief Luft und ist schon wieder am Anfang der Wegbeschreibung. Es ist ja wirklich nicht so einfach, die richtige Straße zu finden, zumal wenn man sie noch nie gefahren ist, und es kann nicht schaden, das Ganze ein drittes Mal, mit noch einigen Zugaben, zu wiederholen. Wir bedanken uns tausendfach und werden unter Winken und einigen letzten nachgerufenen Ratschlägen entlassen. Schon aus anderen Situationen wissen wir, dass wir Zeit mitbringen müssen, wenn wir in Süditalien nach Wegen fragen.

So gebrieft finden wir natürlich auf Anhieb den Weg nach Muro Lukano. Schon von weitem sehen wir es in den Felsen kleben. Es braucht keine besondere Phantasie sich vorzustellen, wie verheerend hier ein Erdbeben gewirkt haben muss. 1694 stürzten die Kathedrale, der Bischofspalast, das Klarissenkloster, Teile des Kastells und unzählige Häuser in sich zusammen und in die Tiefe. Sechshundert Menschen starben. Ähnlich schlimme Auswirkungen hatten die Beben von 1857, 1930 und 1980. Woher nehmen Menschen den Mut und den Willen, nach all diesen Zerstörungen ihre Dörfer und Städte immer wieder aufzubauen? Die Fahrt durch den Ort führt durch engste Gassen hinauf zum Aussichtspunkt über der Stadt, zum nichtbegehbaren Kastell und zum Dom. Die Landschaft ist geprägt von Felswänden, Bergen mit schroffen Zacken und Flußtälern. All die Beben überstanden hat eine römische Brücke aus dem zweiten Jahrhundert, die eine unterhalb des Orts gelegene Schlucht überspannt.

Diese Region hatte nicht nur gegen Erdbeben zu kämpfen. Heimgesucht wurde sie auch von dem Wüten der Malaria oder der Vernichtung des Weinbaus durch die Reblaus. Armut, Unwissenheit und Gewalt durch die Natur oder durch fremde Mächte waren die ständigen Begleiter der Bewohner Lukaniens. Welche psychologischen Mechanismen machten aus den Menschen trotz aller Widrigkeiten so ein freundliches, herb-heiteres Volk? Mit tiefer  Religiosität, kirchlichem Reliquienzauber und dunkelstem Geisterglauben tritt man hier der sich in allen Katastrophen offenbarenden menschlichen Hilflosigkeit entgegen. Wunderglauben wird gegen Existenzangst aufgerechnet. Wenn nicht die Heilige Madonna/Muttergottes beschützt, tut es vielleicht der Heilige Donatus oder ein des Fliegens mächtiger Priester. Und im äußersten Falle können auch Elfen, Zwerge und Geister ihren Zauber entfalten und das Unglück bannen. Auch Wut findet ihren Ausdruck, wenn auf Heiligenfiguren geschossen wird, die trotz erfüllter Gelübde, zum Beispiel des inzwischen verbotenen Sauberschleckens von Kirchenböden mit der Zunge,  nicht die erwartete Hilfeleistung erbrachten. Das Auftreten von Miracolati, Menschen, an denen Wunder geschehen sind, ist keine Seltenheit und führt zu tumultartigen Szenen, während man sich mit großer Ergebenheit in sein eigenes Schicksal fügt. In der Basilikata existieren viele Wahrheiten neben-, unter- und übereinander, für Außenstehende kaum fassbar.  Die ständig gegenwärtigen und unabwägbaren Schrecken der Umwelt zwingen zu außergewöhnlichen Antworten auf die letzten Fragen des Seins.

Unter den vielen Orten, deren Sehenswürdigkeiten einen Besuch lohnen, entscheiden wir uns als nächstes für einen Ausflug nach Acerenza, ehemals an der römischen Überlandstraße Via Popilia gelegen. Die besonders imposante Kathedrale von enormen Ausmaßen liegt am höchsten Punkt des Orts und war Mittelpunkt des ältesten und angesehendsten Bischofssitzes der Basilika. Erbaut wurde sie im elften Jahrhundert, um den Gebeinen des Heiligen Canio eine angemessene letzte Ruhestatt in der Kirchenkrypta zu geben. Der Hl. Canio wirkte in Kathargo. Auf wundersame Art wurden 1080 seine Gebeine in Acerenza „gefunden“, auf ebenso wundersame Art müssen sie auch wieder verschwunden sein, denn sein Sarkophog ist leer. Die 1524 im Renaissancestil errichtete Krypta lohnt trotzdem einen Besuch, auch wenn man einen Euro berappen muss, damit die elektrische Beleuchtung angeht. Ein besonderer Augenschmaus im rechten und linken Querhaus sind die Gemälde aus dem sechzehnten Jahrhundert der Gebrüder Stabile, führende Künstlerpersönlichkeiten ihrer Zeit.  Und wenn man das Gotteshaus verläßt, sollte man unbedingt am rechten, äußeren Eingang einen Blick auf die „incroyable obscenité“ werfen - so beschimpft von einem französischen Kunsthistoriker des 19. Jahrhunderts: eine sehr unkeusche Darstellung weiblicher Sexualorgane. Eine kleine Bar mit vorzüglichem Capucciono stärkt dann vor dem Rundgang durch den Ort, der die übliche lukanische Geschichte vorzuweisen hat: Im Jahre 1090 ein Großbrand, bei dem kein Haus verschont blieb, im Jahre 1656 Einfall des „scharzen Todes“, der Pest, und in den Jahren  1456, 1851, 1901, 1930 verheerende Erdbeben.

Nicht weit von Acerenza kommen wir in das durch zwei „Sehenswert“-Sterne geadelte, an der ehemaligen Via Appia gelegene Venosa, das neben wunderschönen Kirchen auch ein Kastell aus dem sechszehnten Jahrhundert zu bieten hat, das seinerzeit dem Ansturm von Crocco und seinen Briganten nicht standhalten konnte und heute das wunderbare Archäologische Nationalmuseum beherbergt. Ob an der Stelle des Kastells auch schon Kämpfe stattfanden, als die Römer 207 vor Christus in Venosa die Angriffe Hannibals abwehrten? Venosa hat aber nicht nur den berühmt-berüchtigten Besucher Hannibal aufzuweisen. Der bekannteste Sohn und ganze  Stolz der Stadt ist unbestritten der Dichter Horaz, in Venosa als Sohn eines freigelassenen Sklaven geboren. Auch Venosa wurde in der Vergangenheit immer wieder in den Strudel der Geschichte gezogen. Von Langobarden, Byzantinern, Sarazenen, Normannen und Staufern beherrscht, fiel es im spanisch-französischen Krieg an die Spanier. Es wurde  in Mitleidenschaft gezogen von Kriegsverheerungen,  Köhleraufständen und  Bauernerhebungen. Alle Epochen haben aber auch ihre kulturellen Spuren hinterlassen und so begeben wir uns entlang der Hauptstraße auf die eifrige Suche nach antiken Brunnen und alten Kirchen - und landen versehentlich in der örtlichen „Irrenanstalt“. Das weitgeöffnete Tor, von uns als Kirchenportal fehlinterpretiert, lud zum Eintritt. Innen wirkt das dem Heiligen Augustus geweihte Haus hell und heiter. Patienten schlendern umher und grüßen freundlich. Ebenfalls so freundlich wie möglich grüßend begeben wir uns auf den Rückzug. Nach diesem Ausflug in die basilikanische Psychiatrie achten wir darauf, nun den richtigen Eingang zur Abtei der Santissima Trinità zu finden. Den finden wir zwar, nur leider sind hier im Gegensatz zur Psychiatrie die Türen verschlossen. Und erst nach Beschwerden einiger Touristen und geraume Zeit später fährt ein Auto vor, das ein schimpfendes, altes Frauchen absetzt, das unwirsch die Kirche aufschließt. Doch wie hat sich das Warten gelohnt! In der Antike Tempel einer einheimischen Liebesgöttin, wurde hier schon im fünften Jahrhundert ein Gotteshaus errichtet, das im zehnten Jahrhundert durch ein größeres ersetzt wurde. Dann kam im elften Jahrhundert, initiiert durch den Normannen Graf Drogon, der jetztige Bau darüber, versetzt mit Bauteilen aus der daneben verfallenden römischen Siedlung. In der Kirche gibt es zu bestaunen: einen Mosaikfußboden aus dem fünften Jahrhundert, das erhaltene Grabmal der Alberada, Gattin des Normannenherzogs Robert Guiskard, atemberaubend schöne Fresken aus dem dreizehnten Jahrhundert. Gerne hätten wir auch die Krypta besichtigt. Als es dort dunkel ist, suchen wir den Einwurf für den „Beleuchtungseuro“. Nein, den gibt es hier nicht. Es ist schlicht und einfach die Glühbirne kaputt.

Die Zeit der Stauferherrschaft war für Süditalien eine Zeit des Friedens und der Sicherheit und so preist sich die Basilikata auf ihren Tourismusbroschüren selbst als „Itinerari di Federico II.“ an, als das Land, in dem man auf auf Friedrichs Spuren wandelt. Und so führt uns der nächste Weg in das alte Kulturzentrum Melfi und dort auf die an höchster Stelle gelegene, guterhaltene Stauferburg. Melfi ist unauflöslich mit den Staufern und dem Namen Federico II. verbunden, der sich, wann immer es ging, in den Sommermonaten im Kastell von Melfi aufhielt. In Melfi wurde von ihm die erste Kodifizierung einer Rechtsordnung veranlaßt, die als „Konstitutionen von Melfi“ bis in die Neuzeit als Gesetzestext ihre Bedeutung bewahrte. Friedrich II. hatte dem Land mit diesen niedergeschriebenen und für jedermann gültigen Gesetzen auf bis dahin einmalige Weise ein Verfahrens- und Prozeßrecht, ein Straf- und Verfahrensrecht gegeben. Der Ort, wo dies geschah, ist das gut erhaltene Kastell, das besichtigt werden kann und in dem heute ein Museum untergebracht ist. Der Führer erzählt enthusiastisch von dem alljährlich am letzten Sonntag im Oktober stattfindenem großen Fest, zu dem sich Falkner aus ganz Europa mit ihren Tieren in Melfi treffen,  im Gedenken an den großen Falken-Freund Friedrich II. und sein Standardwerk über die Falknerei. Weiter unten im Ort ist der Dom zu besichtigten, dessen Campanile mit seinem ungewöhnlichen, schwarz-weißen Dekor ebenfalls noch aus der Zeit der Normannen stammt und seit dem elften Jahrhundert allen Erdbeben trotzte . 

Weiter geht es durch die eindrucksvolle, sonnenbeschienene, grün und gelb leuchtende Landschaft Lukaniens, durch die zuerst hügeligen, dann in die Breite gefächerten Erhebungen, die den Blick in weite Täler und Ebenen freigeben, damit er sich in der Ferne auf hochgetürmten Bergen verliert. Mitten in dieser Landschaft kommen uns mit Mineralwasser überladene Lkws entgegen. Die Firma „Gaudionello“ zapft hier Quellwasser zum italienweiten Verkauf.  

Ein letzer Ausflug gilt dem im eher flachen und kargen südostlichen Teil der Basilikata liegenden Matera, das zum „Weltkulturerbe der Menschheit“ erhoben wurde. Seit dem achten Jahrtausend vor Christus sind die Hänge einer Schlucht, die ein kleiner Bach durchfließt, besiedelt. Die Menschen schlugen ihre Höhlenwohnungen, Stallungen und Läden in den weichen Tuffstein. Aber auch Kirchen und Klöster wurden in den Fels gebaut. Die  entstandenen Stadtviertel heißen „Sassi“ und wurden noch 1952 von sechzehntausend Menschen bewohnt. Heute leben noch an die siebentausend Menschen an der Hanglage dieser Altstadtquartiere, denen der Tuffstein sommers wie winters ein moderates Klima sichert. Man kann die Schlucht durchklettern, die Malereien der Grottenkirchen bewundern, das kleine Museum besuchen und sogar in einem Höhlenhotel übernachten. In der gegenüberliegenden, nach oben strebenden, auf und nicht unter dem Fels gebauten, anderen malerischen Altstadt von Matera bieten bei Mattigkeit angesichts soviel geschichtsträchtigen Bodens nette kleine Restaurants landestypische Stärkung in Form von Pasta und Vino rosso an. Ein würdiger Abschluss für einen erlebnisreichen Tag.

Erst auf dem Heinweg, auf den Straßen der norditalienischen Metropolen im Stau steckend, gefangen im alltäglichen Irrsinn der industrialisierten Hektik, erscheinen die lukanischen Berge mit ihren ruhigen Seen, mit ihren fast menschenleeren Hotels und Restaurants und mit ihrer in der Vergangenheit verhafteten Zeit unsäglich weit weg – so weit weg, wie eine kleine, verwunschene, in sich verschlossene Welt nur sein kann.

c: Angelika Gutsche
Juli 2004

(Lit.: „Kalabrien – Basilikata“, Ekkehart Rotter, DuMont Kunst
„Magie und Macht in Italien“, Thomas Hauschild, Merlin Verlag
„Friedrich der Staufer“, Eberhard Horst, Econ)

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